Hoffnung für geschundene Kinderseelen

Von Axel H. Kunert 11.12.2018 – 17:59 Uhr

Die Begleiter der Sandkasten-Spiele in Nagold. Ganz rechts im Bild Gerlinde Unger, daneben Bernd Schlanderer, Geschäftsführer der Diakonie Nordschwarzwald, die das Hilfs-Angebot für traumatisierte Kinder organisiert. In der Bildmitte Rolf Johnen, Arzt für Psychosomatik aus Calw, der die Sandkasten-Spiele als Therapie-Möglichkeit für die Region entdeckt und eingeführt hat und die Angebote   als verantwortlicher Therapeut begleitet.  Foto: Kunert Foto: Schwarzwälder Bote
Die Begleiter der Sandkasten-Spiele in Nagold. Ganz rechts im Bild Gerlinde Unger, daneben Bernd Schlanderer, Geschäftsführer der Diakonie Nordschwarzwald, die das Hilfs-Angebot für traumatisierte Kinder organisiert. In der Bildmitte Rolf Johnen, Arzt für Psychosomatik aus Calw, der die Sandkasten-Spiele als Therapie-Möglichkeit für die Region „entdeckt“ und eingeführt hat und die Angebote als verantwortlicher Therapeut begleitet. Foto: Kunert Foto: Schwarzwälder Bote

Es stockt einem der Atem: Der kleine Junge im grauen Jogging-Anzug, mit den dunklen Haaren, den fast schwarzen Augen stellt mit allen Geräuschen und Gesten einen Straßenkampf nach – Soldat gegen Soldat, Deckung gegen freies Schussfeld. Reihenweise sterben seine kleinen Plastikkämpfer.

Nagold. Sie werden von Matchbox-Panzern überrollt. Eine Granate lässt der kleine Junge explodieren, der Wüstensand spritzt auf als er ihn mit seinen Fingern verteilt. „Pruuuchhhh“, macht es aus seinem Mund. Keiner seiner Soldaten steht mehr aufrecht. Was so sehr erschüttert an dieser Szene, an diesem Spiel in einem Sandkasten, nicht wesentlich größer als ein Schuhkarton: Der kleine Junge spielt nach, was er real erlebt hat – daheim, in seinem Heimatland Syrien. Oder Afghanistan. Oder sonstwo, wo der Krieg auch die Seelen verstört.

Jetzt ist der Junge hier in einem Klassenraum der Nagolder Kernenschule. Mit ihm zusammen neun, zehn weitere Kinder im Alter zwischen sechs und zwölf Jahren. „Die Kinder haben das Schlimmste erlebt, was man sich vorstellen kann,“ sagt Rolf Johnen, Facharzt für Psychosomatik aus Calw. Die Kinder haben gesehen, wie Menschen misshandelt wurden, starben. Ihre Angehörigen. Wie sie erschossen wurden. Ermordet. Zerhackt. Zerfetzt von Bomben, Minen und eben Granaten. So wie es der kleine Junge im grauen Jogging-Anzug eben in seinem kleinen Sandkasten nachgestellt hat.

Hier ist die erlebte Grausamkeit „nur noch“ kindliches Spiel

Der einzige Trost für den Betrachter dieser erschütternden Szene: Hier im behüteten Klassenraum ist die erlebte, unfassbare Grausamkeit „nur noch“ kindliches Spiel. Ein Spiel, das heilen kann: Wir Menschen bewältigen erlebte Traumatas, indem wir die Erinnerung daran wieder hoch holen aus der Erinnerung, aus dem Unterbewusstsein – und diese Erinnerung durch ein neues, darauf „aufgesetztes“ Erleben „überschreiben“. Die Synapse im Gehirn mit der Schock-Erinnerung quasi neu programmieren – sie mit neuen Erinnerungen aus einem positiveren Umfeld wieder neu in unser Gedächtnis einsortieren. Genau das kann kleinen, beschädigten Kinderseelen helfen. Manchmal sogar komplett heilen.

Die schwersten Fälle kommen in die Sandkasten-Spiele

Und zwar in einer extrem beeindruckenden Art und Weise. Alle Kinder hier im Klassenraum im Kernen galten an ihren eigenen Schulen (in und um Nagold) als „unbeschulbar“, erzählt Rolf Johnen. Sie störten den Unterricht, verweigerten die Mitarbeit, zeigten sich jedem guten Zureden gegenüber verschlossen. Genau nach solchen Kindern sucht Johnen gezielt mit Hilfe eines Fragebogens – um die Schwere der, man nennt es heute gerne, „posttraumatischen Belastungsstörung“ einschätzen zu können. Die schwersten Fälle kamen hier in die Sandkasten-Spiele – zehn Wochen lang, eine „Begleitung“ wöchentlich.

Jedem der Kinder ist dabei ein ehrenamtlicher Betreuer zugeteilt. Oder besser: tatsächlich Begleiter. Der Erwachsene, manchmal im Oma- oder Opa-Alter, aber auch jünger, ist einfach nur da – ein Gegenüber für das Kind in seinem Spiel. Ein Zuschauer, der das Kind so annimmt wie es ist. Keine Wertung, keine Ermunterung, kein Tadel. Nur die Sicherheit einer Gegenwart. Auch ein Publikum für das Kind, dem es sein Spiel präsentieren kann. Das dadurch Vertrauen aus seinem Gegenüber schöpft. Und sich und seine Seele in diesem neuen, spielerischen Raum öffnet – für das unbeschwerte Wiedererleben des so sehr Schrecklichen.

Man sieht den Begleitern an, dass es ihnen nicht immer leicht fällt, unbeteiligt zu bleiben. Neutral, die eigenen Emotionen in Griff. Selbst wie ein Therapeut. In einem Kurs – mit 50 weiteren Helfern – haben sie im Frühjahr gelernt, wie sie sich während der Sandkasten-Spiele zu verhalten haben. Was mit den Kindern während dieser Begleitungen passiert. Welche psychologischen Techniken auch in den anderen Programmteilen – dem gemeinsamen Singen, den Atemübungen, den gezielten Bewegungsübungen – stecken: wirkende Ersatzhandlungen, um die tiefsitzenden Trauma-Erinnerungen durch ein unbeschwertes, leichtes, fröhliches Erleben bestenfalls zu neutralisieren.

„Ich bin sehr überrascht, wie sehr sich die Kinder in diesen Begleitungen tatsächlich öffnen und mitmachen“, erläutert Rolf Johnen. Ein ganz anderes Bild dieser Kinder, als deren Schulen zuvor berichtet haben. Und was diese Schulen nun auch selbst zurückmelden: Die Kinder, die die Sandkasten-Spiele durchlebt haben, seien wie ausgewechselt – motiviert, begeistert, wissbegierig. Weshalb Johnen hofft, seinen Fragebogen künftig an allen Schulen im Umkreis zum Einsatz zu bringen – um möglichst vielen schwerst-traumatisierten Kindern („nicht nur aus Kriegsgebieten – verheerende Konflikte, die Kinder seelisch aufs Tiefste verletzten, gibt es auch in hiesigen Familien“) diese Hilfe zukommen zu lassen.

„Es tut wohl, wie die Kinder etwas von sich zeigen“

Bisher gibt, beziehungsweise gab es drei dieser Begleitungen: Neben der hier in Nagold je eine in Calw und Althengstett. Wobei diese Begleitungen für die ehrenamtlichen Helfer keine „Einbahnstraßen“ sind: „Es tut wohl, wie die Kinder etwas von sich zeigen“, sagt eine der Begleiterinnen. Eine andere ergänzt: „Es ist eine faszinierende Arbeit, wirklich fantastisch – Kindern auf diese Weise helfen zu dürfen.“ Wobei es aber „sehr, sehr schwer“ falle, sich tatsächlich „nicht auf ›mehr‹ einzulassen“ – eine tiefere Bindung zu den Kindern aufzubauen, sondern sie nur auf Zeit zu begleiten.

Die Idee dabei, erläutert Gerlinde Unger von der Sozialberatung der Diakonie Nordschwarzwald, eine der immer auch mit anwesenden professionellen Betreuerinnen bei den „Sandkasten-Spielen“: „Die Kinder sollen in ihrem Spiel und ihrem Erleben hier in diesem geschützten Raum wirklich absolut frei sein.“ Kein Beziehungsballast, kein vorgeprägtes Rollenverhalten, kein Gruppenzwang – immer Freiwilligkeit, Offenheit, Angenommen-Sein so wie jedes Kind nun mal ist. Weshalb der wohl älteste Junge in dieser Runde beim abschließenden Singkreis auch gerne schweigen darf. Das sei „altersgerechtes Verhalten“, schmunzelt Rolf Johnen, während die Kinder den Klassenraum längst verlassen haben.

Zurück bleiben einige der gestalteten Sandkästen der Kinder: Vollgestellt mit spielzeuggroßem Kriegsgerät, halb verbuddelten Playmobil-Leichen, zerschundenen Plastik-Soldaten. Das Unaussprechliche sichtbar gemacht. Gerlinde Unger erzählt, was sie dabei persönlich mit am meisten berührt hat: „Ein Junge hat jedes Mal seinen ›Kriegskasten‹ komplett zugestellt mit Panzern und Kriegsgerät. Jedes Mal, wenn er seinen Sandkasten gestaltete. Doch ganz zum Schluss baute er ein kleines, knallbuntes Viereck in die Mitte seines Kastens – mit Tieren, Huhn, Hase und Schwein.“ Ein Fleckchen Normalität inmitten der unaussprechlichen Grausamkeiten, die dieses Kind erlebt hat. Ein Hoffnungsschimmer aus dieser kindlichen Seele.