Rolf Johnen (vorne rechts) mit seinen Trauma-Helfern.
Foto: Roland Stöß
Von Roland Stöß 23.12.2019 – 17:54 Uhr
Wer das Leuchten in den Augen dieser Kinder gesehen hat, der weiß: Diese Geschichte könnte zur schönen Weihnachtsgeschichte „made in Calw“ taugen. 20 Kinder der Erna Brehm-Grund- und Werkrealschule (früher Badstraßenschule) fühlten hautnah, wie wertvoll sie in den Augen eines anderen Menschen sind – beim begleiteten Sandspiel.
Calw. Nun hieß es, Abschied nehmen von zehn wunderbaren Einheiten (Schulstunden) der „Stressbewältigung durch begleitetes Sandspiel“. Ausgestattet mit einer tüchtigen Portion Selbstwertgefühl beschreiten die Kids nun ihren weiteren Lebensweg.
Das Projekt
Obwohl sie zum Fest der Liebe passt, findet diese Geschichte nicht nur an Weihnachten statt. Sie ist also keine Eintagsfliege. Im Gegenteil. Im Landkreis Calw macht seit zwei Jahren ein Projekt von sich reden, das mit steigendem Bekanntheitsgrad zunehmend an Bedeutung gewinnt. Die Mund-zu-Mundpropaganda in pädagogischen Fachkreisen sorgt zudem für eine steigende Nachfrage. Am Ende gibt es nur Gewinner – Kinder als Individuen – die Gesellschaft im Gesamten. So war es kein Wunder, dass die Initiative durch Ministerpräsident Winfried Kretschmann den Integrationspreis des Landes Baden-Württemberg verliehen bekam.
Die Anfänge
Begonnen hatte alles mit der Idee von Rolf Johnen, sich um traumatisierte Flüchtlingskinder zu kümmern. Johnen folgte damals seinem ihm innewohnenden Paradigma „Mitmachen statt nur zugucken“. Mit dem Blick auf das unendliche Leid traumatisierter Geflüchteter äußerte sich Johnen zu jener Zeit im Gespräch mit unserer Zeitung: „Da muss man doch etwas tun“. Ein Vortrag an der Volkshochschule (VHS) des Regensburger Thomas Loew 2017 war der Startschuss. In einem Wochenendseminar unter der Leitung von Loew ließen sich in Neubulach 56 Menschen aus dem Landkreis zum „Trauma-Helfer“ ausbilden. Die Arbeit mit traumatisierten Flüchtlingen begann. Nun gilt: nicht nur Flüchtlinge – auch Schüler.
Relativ schnell wurde laut Johnen eine Merkwürdigkeit deutlich: „Die Flüchtlinge werden im Land so verteilt, dass sie nicht mehr auffallen. In der Folge sind sie auch für die therapeutischen Kurse, die wir anbieten, nicht mehr erreichbar“, so Johnen. „Wir haben deshalb mit Erfolg begonnen, die Kurse für ganze Schulklassen anzubieten.“ Traumahelferin Doris Stamm brachte diese Erfolg auf einen einfachen Nenner „So etwas tut jedem gut“. Mittlerweile hat man Kinder in Schulen Bad Liebenzells, Ebhausens und Calws betreut. Aktuell läuft ein Seminar in Altensteig. Demnächst werden in Haiterbach, Heumaden und erneut in der Calwer Badstraße Kurse stattfinden.
Die Ergebnisse
Die Rektorin der Erna Brehm Schule, Margot Boschert-Sabo, erzählte dem Schwarzwälder Bote von einem Jungen mit einer sehr schlimmen Vergangenheit, die man sich im westlichem Kulturkreis nur schwer vorstellen könne. Bei ihm zeigte sich bereits nach den ersten Stunden des Sandspiels eine positive Verhaltensänderung, die man vorher so nie erwartet hatte.
Zum ersten Mal schaffte man durch diese Stunden einen emotionalen Zugang zu diesem Jungen. Die Schulleiterin berichtete auch von einem Mädchen, das im Unterricht nicht wie sonst störte, sondern auf ihre eigene Art zu sich fand. Sie zog sich in eine Ecke zurück, um sich konzentriert mit einer ¬Tätigkeit zu beschäftigen. Oder einfach zu spielen und durch das Spiel Erlebtes zu verarbeiten.
Mittlerweile, so Johnen, berichten Lehrer und Eltern von bereits behandelten Kindern sowie von deutlichen Verbesserungen bei Konzentration, Schlafstörungen, aggressivem Verhalten, Ängsten, innerem Rückzug und vielem mehr. Eine Lehrerin sagte neulich zu Rolf Johnen „Die Kinder leben sichtlich auf. Sie kommen leicht in den Unterricht“.
Der Ablauf
Wie wird ein solch positives Ergebnis erreicht? Bei den zehn Unterrichtsstunden handelte es sich um eine feine, zwischenmenschliche Beziehung. Obwohl es eine höchst private Angelegenheit darstellte, durfte der Schwarzwälder Bote dabei sein. Rasch wurde deutlich, dass die 20 Kinder (verteilt auf zwei ¬Klassenzimmer) etwas erleben durften, was sie ihnen sehr gut tut; wo sie mit voller Konzentration dabei sind. Manch ein Kind lernte vielleicht kennen, was ihm ansonsten im Leben fehlt. Eine Bezugsperson, die „nur da ist und einen machen lässt“.
Nachdem ein gemeinsames Ritual die Anfangsspannung lösen sollte, saßen sich das Kind und „sein“ Helfer an einem Tisch gegenüber. Der Auftrag an das Kind lautete: „Du darfst spielen – und ich bin bei dir“. Das Kind durfte mit einer Kiste voller Sand und Spielfiguren das spielen, was ihm in den Sinn kommt. Der Trauma-Helfer begleitete das Spiel so, wie gute Eltern das Sandspiel begleiten würden. Allein durch die Anwesenheit und das Aufmerksam-Sein hatten die Helfer eine wichtige unterstützende Funktion für die Kinder.
Das Ende
So kam es, wie es kommen musste: Als die Glocke das Ende der Verbindung zwischen Kind und Helfer schon fast etwas unbarmherzig verkündete, entfuhr einem Kind ein spontanes „Oh nein“.
Dass das Projekt nicht nur die Seelen der Kinder berührt, wurde beim abschließenden Gedankenaustausch in der großen Helfer-Supervisionsrunde deutlich.
Eine Trauma-Helferin sprach von einer beidseitigen Trauer über das Ende der Stunden. Eine Kollegin pflichtete ihr bei. „Mir fällt der Abschied schwer. Daran muss ich nun richtig arbeiten. Doch wie geht man damit um?“ Johnen verdeutlichte die positive Seite der Trauer. „Das ist wichtig. Trauer darf übrigens nie mit Depression verwechselt werden. Trauer ist das Wertvollste, was wir haben. Es ist der Schmerz über den Verlust von etwas Wertvollem. In der Trauer behält das Verlorene seinen Bestand. Wenn wir über einen Verlust nicht mehr traurig sind, dann ist das wertlos.“
Die Zukunft
Wie geht man nun mit dem wachsenden Bedarf um? Die Erfolgsmeldung lautet: Mittlerweile sind aus den 56 Helfern mehr als 100 geworden. Aufgrund des wachsenden Bedarfs werden jedoch weitere ehrenamtliche Traumhelfer gesucht. Mitmachen kann jeder. Man muss keine berufliche Vorbildung mitbringen. Johnen bietet regelmäßig Einarbeitungskurse an. Informationen gibt es direkt bei ihm unter der Nummer 07051/1 27 25 oder per E-Mail unter rolf.johnen@stadtlandkultur.de.
Der Workshop
Am 17. Januar 2020 wird ¬Alexandra Lehmler bei Jazz am Schießberg spielen. Als sie von dem Projekt der „Stressbewältigung durch das begleitete Sandspiel“ hörte, sagte sie spontan zu, am Vormittag des Konzerts mit den Kindern in der Erna Brehm Schule einen Jazz-Workshop zu veranstalten. Die Saxphonistin erhielt 2014 den Jazzpreis des Landes Baden-Württemberg. Außerdem wurde sie mit dem Kompositionspreis bemi Neuen Deutschen Jazzpreis ausgezeichnet.